Wer zu krank zum Arbeiten ist, aber zu gesund für die Erwerbsminderungsrente, fällt durch alle Raster des Sozialrechts. Chronische Krankheiten wie ME/CFS oder Long Covid entlarven ein System, das Krankheit noch immer in Stunden misst. Zeit für eine grundlegende Reform.
Es ist eine der stillsten Formen sozialer Ausgrenzung: Menschen, die zu krank sind, um zu arbeiten, und zu gesund, um als erwerbsgemindert zu gelten. Sie fallen nicht durch das Raster – sie sind das Raster. Der Sozialstaat hat für sie keinen Platz vorgesehen.
Die einschlägigen Paragrafen – allen voran § 43 Sozialgesetzbuch (SGB VI und § 145 SGB III) – stammen aus einer Zeit, in der Krankheit als Episode verstanden wurde, nicht als Lebenslage. Diese Lücke trifft inzwischen zehntausende Betroffene, besonders Menschen mit ME/CFS, Long Covid oder anderen chronischen Erschöpfungs- und Schmerzsyndromen und psychischen Erkrankungen.
Was das System ihnen anbietet, ist keine Versorgung, sondern ein Labyrinth.
Das Dogma der Arbeitsfähigkeit
Das deutsche Sozialrecht ist hierarchisch organisiert. Sein Zentrum bildet die Annahme, dass Arbeit der Normalzustand sei, von dem Krankheit nur vorübergehend abweicht. Dementsprechend ordnet sich die gesetzliche Logik so:
Krankheit → Arbeitsunfähigkeit → Rehabilitation → Wiedereingliederung → Erwerbsminderung → Altersrente.
Diese linear-episodische Abfolge funktioniert, solange Krankheit als überwindbar gilt. Sie zerbricht aber an chronischen, nichtlinearen Verläufen – dort, wo Heilung weder möglich noch planbar ist.
Die Nahtlosigkeitsregelung als juristisches Paradox
§ 145 SGB III, die sogenannte "Nahtlosigkeitsregelung", sollte genau hier helfen. Sie sichert auf begrenzte Zeit nach dem Ende des Krankengeldbezuges Arbeitslosengeld auch dann, wenn jemand vorübergehend nicht arbeitsfähig ist, aber voraussichtlich wieder wird. Voraussetzung ist also: eine reale Perspektive auf Besserung. Eine explizite Ausnahme von der Regel, dass der Bezug von Arbeitslosengeld I voraussetzt, dass man dem Arbeitsmarkt "zur Verfügung steht". Und das muss man erst einmal bei seiner Arbeitsagentur erklären und durchsetzen.
Doch was geschieht, wenn diese Perspektive fehlt oder in Frage gestellt wird? Dann kippt die Regelung in ihr Gegenteil.
Die Drei-Stunden-Fiktion
Der Dreh- und Angelpunkt der Erwerbsminderungsrente liegt im § 43 Abs. 2 SGB VI: Erwerbsgemindert ist, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, täglich mindestens drei Stunden zu arbeiten.
Diese "Drei-Stunden-Grenze" stammt aus der Rechtsprechung der 1970er Jahre – gedacht als Verwaltungsvereinfachung und Rechtsprechungsschablone, nicht als Ausfluss arbeitsmedizinischer Erkenntnis. Sie ist heute zum gesetzlichen Dogma geronnen.
Doch was bedeutet das für Erkrankungen, deren Verlauf tagesabhängig, phasenhaft und unvorhersehbar ist? Das Gesetz sieht sie nicht. Die Fiktion einer festen Arbeitszeit ignoriert die Realität von Menschen, deren Kräfte sich nicht nach Stoppuhr einteilen lassen.
So entsteht ein juristischer Zirkelschluss
Das sozialrechtliche Raster verlangt eindeutige Zuordnungen – arbeitsfähig oder erwerbsgemindert nach den Kriterien des § 43 SGB VI.
Doch chronisch Erkrankte mit fluktuierender Belastbarkeit erfüllen im Grunde beide Kriterien gleichzeitig: Sie sind nicht dauerhaft belastbar – und dennoch nicht vollständig leistungsunfähig. Gemessen an den normalen Kriterien des Sozialrechts ein Paradoxon.
Die Nahtlosigkeitsregelung nach § 145 SGB III will diesen an sich nicht vorgesehenen Ausnahmezustand im Sozialrecht auffangen: Sie anerkennt, dass jemand gleichzeitig nicht arbeitsfähig und nicht erwerbsgemindert sein kann. Ein Schwebezustand, der aber nur funktioniert, solange niemand ihn "beobachtet".
Doch ähnlich wie in der Quantenphysik die Dekohärenz den Zustand eines Teilchens zerstört, sobald es beobachtet oder gemessen wird, kollabiert auch dieser rechtliche Zwischenraum, sobald die Rentenversicherung ins Spiel kommt. Und sie kommt irgendwann ins Spiel – unvermeidlich. Das System, so unflexibel es oft ist, hat eine Tendenz zur Anspruchskonkurrenz.
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) drängt auf den Rentenantrag, die Arbeitsagentur letztlich auch – und die DRV muss sich entscheiden – und tut das auch, binär: entweder erwerbsfähig oder nicht. Der Zwischenzustand ist aufgehoben. Damit wird die Sonderregelung zur Regelabweichung, die sich selbst negiert. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG I) nach § 145 SGB III entfällt mit der Entscheidung der Rentenversicherung – gleich, wie sie lautet.
Das ist keine Randerscheinung, sondern eine systemische Fehlsteuerung. Denn der Gesetzgeber hatte die Nahtlosigkeitsregelung als Brücke konstruiert, die nach den damaligen Vorstellungen in der Verrentung älterer Arbeitnehmer enden sollte – und die heute für jüngere Betroffene ohne oder mit minimalem Rentenanspruch, die es bei ME/CFS zuhauf gibt, de facto im Nichts endet.
Ein Mensch fällt aus dem System. Nicht, weil er keine Krankheit hat, sondern weil das System keine Kategorie für ihn kennt.
Geteilte Zuständigkeiten, verlorene Verantwortung
Im praktischen Vollzug zeigen sich die Folgen dieser Gesetzeslogik besonders drastisch. Betroffene erleben eine Pendelbewegung zwischen Behörden:
- Die Arbeitsagentur verweist auf die Rentenversicherung,
- die Rentenversicherung auf die Krankenkasse,
- die Krankenkasse auf den Medizinischen Dienst.
Jede Institution handelt formal korrekt – aber niemand trägt die Verantwortung für den Gesamtfall. Das Sozialgesetzbuch kennt Zuständigkeiten, nicht Schicksale.
In der Folge verlieren viele chronisch Erkrankte jegliche soziale Sicherheit. Sie rutschen aus dem Leistungsbezug, in die Grundsicherung oder in familiäre Abhängigkeit. Gerade junge Betroffene mit geringen oder gar keinen Rentenansprüchen verlieren nicht nur ihre Erwerbsbiografie, sondern fallen lebenslang auf die unterste Stufe sozialer Absicherung. Das bedeutet nicht weniger als lebenslange Verarmung. Der ursprüngliche Sinn des Sozialstaats – Schutz vor Not – fällt selbst durch das Raster.
Warum das System für die neue Krankheitsrealität blind ist
Die Architektur des Sozialrechts entstand in einer industriellen Epoche. Sie dachte Krankheit als vorübergehende Unterbrechung der Erwerbsbiografie. Doch die epidemiologische Realität hat sich verschoben: Chronische, multifaktorielle Erkrankungen dominieren heute das Bild, und sie folgen keiner linearen Logik.
Das Sozialrecht aber verharrt in der Mechanik des 20. Jahrhunderts. Es operiert mit starren Kategorien wie arbeitsfähig, erwerbsgemindert, rehabilitationsfähig – allesamt Konstrukte, die eine Stabilität voraussetzen, die diese Krankheitsbilder nicht mehr haben.
Damit wird die Fiktion der "Leistungsfähigkeit" zur juristischen Zumutung. Wer sie nicht erfüllt, wird behandelt, als habe er sie selbst verschuldet. Dabei würde es in vielen Fällen sogar darum gehen, den Betroffenen eine langfristige Perspektive zu eröffnen, um wieder Zugang zum Erwerbsleben zu finden. Die allerwenigsten Betroffenen wollen sich damit abfinden, lebenslang in die Erwerbsunfähigkeit zu fallen. Das System allerdings treibt sie genau dorthin.
Reformbedarf: Vom Maschinenmodell zum Lebensmodell
Es geht nicht primär um mehr Geld, sondern um eine andere Struktur. Ein modernes Sozialrecht muss drei Reformschritte leisten:
- Abschaffung des Drei-Stunden-Kriteriums
Statt abstrakter Arbeitszeit: funktionale Bewertung der Lebens- und Erwerbsfähigkeit. Zum Beispiel nach dem WHO-ICF-Modell, das eine funktionale Bewertung von Teilhabe und Aktivität erlaubt, unabhängig von starren Zeitkriterien. - Einführung eines Zwischenstatus
Ein gesonderter Leistungsbereich für dauerhaft eingeschränkt Erwerbsfähige, ohne Pflicht zur Erwerbsintegration, aber mit Perspektive auf Teilhabe. - Verbindliches Fallmanagement
Jede Person mit chronischer Erkrankung braucht eine koordinierende Instanz, die über Zuständigkeitsgrenzen hinaus denkt.
Der humanistische Maßstab
Das Sozialrecht ist kein technisches Regelwerk – es ist normative Ethik. Es zeigt, wie eine Gesellschaft mit ihren Schwächsten umgeht. Wenn Gesetze Menschen zwingen, sich zwischen Arbeitskraft und Würde zu entscheiden, dann hat der Staat sein moralisches Fundament verloren.
Ein Sozialstaat, der chronisch Kranke aus dem System fallen lässt, ist kein Versorgungsstaat mehr – er ist ein Verdrängungsstaat. Und wenn das Gesetz die Krankheit nicht kennt, dann muss nicht die Krankheit verschwinden, sondern das Gesetz sich ändern.







5 Kommentare
Kommentare
Dipl. Phil. Hel... am Permanenter Link
Herzlichen Dank an den Autor für diesen überaus wichtigen Artikel, der den so genannten bundesdeutschen Sozialstaat zu einer Farce geraten lässt. Allerdings möchte ich den Beitrag um einige Aspekte erweitern.
Nun greifen die oben beschrieben "Sozialstaat"-Regelungen: EU-Rente, ALG, MD, Pflegegrad. Zu betrachten bleibt, dass sich Betroffene erst einmal in den Gutachter-Dschungel zu begeben haben. Gutachter, die beinahe ausschliesslich im Auftrag der Sozialversicherungsträger / Versorgungsamt, Berufsgenossenschaft, Rentenkasse, etc. / zwecks Begutachtung chronisch Kranker bestellt und von diesen Trägern VERGÜTET werden.
Dass die "Begutachtungen" im Auftrag der SV-Träger regelhaft zum Nachteil der schwerst chronisch Kranken ausfallen, liegt auf der Hand. Gegengutachten in Höhe von mehreren Tausend Euro kann sich die Mehrheit der vulnerablen Personen nicht leisten, oder es fehlt ihnen für die juristische Gegenwehr schlicht die Kraft. Zudem haben diese Gegengutachten in den Widerspruchsverfahren kaum Gewicht. Sprich, die SV-Träger müssen Privatgutachten nicht folgen, sie müssen diese lediglich "würdigen" - was auch immer das heißen mag.
In der Quintessenz gibt die große Mehrheit der vulnerablen, chronisch kranken Beschwerdeführer bereits im Widerspruchsverfahren auf. Für das nachfolgende Gerichtsverfahren fehlen diesen schlicht die Kraft, oder die finanziellen Mittel - der beides.
Ein äußerst zynischer Umgang des "Sozialstaats" mit schwer kranken, äußerst vulnerablen Personengruppen.
Auf diese Weise werden Menschen in höchster existentieller Not eingezahlte Rechtsansprüche systematisch vorenthalten. Der "Sozialstaat" spart schlicht die an diese Personengruppe auszuzahlenden finanziellen Renten-, Pflege- und sonstigen Leistungen. Mehr Zynismus ist kaum vorstellbar.
Regina Buhl am Permanenter Link
Als ehemalige Vertragsärztin habe ich bis heute nicht verstanden, warum das Sozialsystem auf so komplizierte Weise in unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche aufgesplittet ist.
Sozialgerichtsprozesse geführt werden. Und die Betroffenen hängen in der Luft oder fallen ganz aus dem Raster.
Das ist mir besonders während meiner Angestelltentätigkeit in der Rentenversicherung aufgefallen: Während die Patienten auf die Klärung der Frage, wer für die Reha zahlt, warten mussten, verging unnötig Zeit, die zur Heilung hätte genutzt werden können.
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Danke! Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen - außer vielleicht, dass hierzulande von öffentlichen Stellen teilweise fragwürdige Dinge gefördert wurden, z. B.
GeBa am Permanenter Link
In unserem Gesundheits-Krankensysthem liegt vieles im argen, zu viele Köche im Brei,
ohne jegliche Koordinierung und ohne Verstand.
Britta am Permanenter Link
Das ist so tatsächlich auch meinem Mann passiert, nicht mehr arbeitsfähig nach langjähriger Krebserkrankung mit diversen begleitenden Krankheiten, aber ärztlich nicht mehr diagnostiziert sagt die drv natürlich, dass e